Sonntag, 16. Dezember 2007

Kaffee im Stehen

Sie war groß und schlank, hatte die dunklen Haare etwas ungeordnet hochgesteckt und an ihren Ohren funkelten zwei dunkle Ohrringe.
Unter ihrem eng geschnittenen Mantel kam an der einen Seite ein etwas längerer bunter Stoffzipfel zum Vorschein.
Sie hatte dieses gewisse Etwas, das einen zwingt hin zu schauen, wenn sie den Raum betritt.
Ihr leicht abwesender Blick drehte eine Runde durch das kleine Café als sie beim Tresen stehend einen Kaffee bestellte. Sie sah zwar in seine Richtung, er hatte aber nicht das Gefühl, dass sie ihn wahrgenommen hatte. Nun saß er schon seit gut zwei Stunden hier in der Ecke, am anderen Ende des Tresens, wie jeden Abend um diese Zeit. Bis jetzt hatte er Sie noch nicht hier gesehen und sie schien es auch eilig zu haben, denn sie trank ihren Kaffee im Stehen und hatte schon ein paar Mal auf die alte Uhr an der Wand geschaut. Da er sie unaufhörlich anschaute, war es unvermeidbar, dass sich ihre Blicke für einen kurzen Augenblick trafen, wobei der ihre ein eher flüchtiger war. Sie hatte den Kopf schon weg gedreht, als sie plötzlich fast ruckartig wieder in seine Augen schaute. Ihr Blick traf ihn wie ein wohl gezielter Pfeil. Er fühlte sich vollkommen entblößt, so als würde sie seine ganze Einsamkeit erkennen und verstehen. Mit der gleichen Wucht, mit der die Brandung an die Klippen schlägt, trafen ihre beiden Blicke sich nun.
Sie riss sich unvermittelt davon los, zahlte und verließ fluchtartig das Café. Für den Bruchteil einer Sekunde saß er wie gelähmt da, dann sprang er jäh auf, knallte einen 20 Euro Schein hin und rannte zur Tür.
Draußen angekommen konnte er gerade noch sehen, wie sie um die nächste Ecke verschwand. Es war recht dunkel und die schwache Straßenbeleuchtung änderte auch nicht viel daran. Er folgte ihr ohne darüber nachzudenken, was er tat. Er musste es tun, er hatte keine Wahl. Sie bog in die nächste Straße nach links, und als er an der Ecke ankam, sah er, wie ihr Rockzipfel in einem Torbogen verschwand. Dann stand er selber davor, etwas ratlos, denn er wusste nicht so recht was er nun machen sollte. Man konnte durch die Häuser hindurch in einen dunklen Hinterhof gelangen. Er lauschte in die Dunkelheit, fast schon verzweifelt darüber, sie verloren zu haben. Als plötzlich ein unbekannter, merkwürdiger Klang ganz leise zu ihm durch drang, hielt er den Atem an. Er konnte nicht genau unterscheiden, ob da jemand sang, oder ob diese klagende Melodie von einem Instrument erzeugt wurde. Er fühlte sich in seinem Innersten berührt. Sein ganzer Schmerz, den er so gut hatte wegschließen können, brach hervor und verknotete sich mit der Musik. Sie wickelte sich um sein Herz wie ein Band, das nun anfing an ihm zu ziehen. Er folgte ihr langsam, verschwand auch in die Dunkelheit hinein, bis er vor einer halb offenen Türe stand, durch die ein blasser Lichtstrahl hinaus fiel. Die Musik war jetzt deutlich lauter zu hören, eben so auch ein paar Stimmen und Gelächter. Etwas unschlüssig stand er nun da, eingespannt von der Musik. "Ist schon richtig, das ist der Eingang, einfach durchgehen und dann rechts." hörte er plötzlich eine männliche Stimme hinter sich sagen. Der Mann lächelte ihn freundlich an und ging an ihm vorbei. Er folgte ihm dankbar darüber, keine Fragen beantworten zu müssen. Sie betraten eine Art Vorraum. Jetzt war die Musik laut zu hören. Am Ende dieses Vorraumes konnte man durch einen großen Durchgang in einen eher schwach beleuchteten Raum schauen, in dem sich eng umschlungene Paare zu der Musik bewegten. Rechts vor diesem Durchgang saß eine junge Frau an einem kleinen Tisch und lächelte ihn an. Auf dem Tisch stand ein Schild mit der Aufschrift: "Tango Argentino " Eintritt 5 Euro.
Auf der anderen Seite stand ein altes Sofa, neben dem sich eine Art Regal befand, das voll mit einer Unmenge von Taschen, Schuhen und sonstigen Kleidungsstücken gestopft war. Auf der anderen Seite des Sofas hingen an einer Stange eben so viele Kleiderbügel, an denen verschiedene Jacken und Mäntel aufgehängt waren. Der Mann, der vorhin an ihm vorbei gegangen war, saß jetzt auf dem Sofa, schnürte gerade seine Schuhe zu, ging dann zu der Frau, die hinter dem Tisch saß, wechselte noch ein paar Worte mit ihr und verschwand hinüber.
Und er? er stand immer noch da, zog dann aber doch entschlossen seinen Mantel aus, hängte ihn auf einen der Bügel und zahlte bei der jungen Frau den Eintritt, voller Neugierde darauf, in diese neue, ihm völlig unbekannte Welt einzutauchen. Der eigentliche Raum war viel größer als man von außen vermuten würde und war fast ganz ausgefüllt mit tanzenden Paaren. Wieder andere saßen an den Tischen oder in den paar alten Sesseln, die an den Seiten standen und unterhielten sich oder betrachteten das Geschehen.
Gleich rechts war so eine Art Tresen, hinter dem ein etwas älterer Mann gerade ein Glas Rotwein eingoss. Ein vertrauter Anblick, an den er sich in dieser so fremdartigen Umgebung klammern konnte. Er entschloss sich aber lieber einen Kaffee zu trinken.
Nun stand Er an die Wand gelehnt, die heiße Tasse in der Hand und konnte seinen Blick nicht mehr von diesem Sinne betörenden Anblick wenden. Die Frauen waren alle irgendwie schön anzusehen, zurecht gemacht, als wären sie jederzeit bereit, jemanden zu verführen. Fasziniert sah er diese zum Teil verzückten, zum Teil sehr ernsthaften Gesichter, sah diese anmutigen, geschmeidigen Bewegungen, diese Hingabe mit der die verschiedenen Tänzer scheinbar unterschiedlichste Geschichten zu erzählen schienen, die Innigkeit, die manche Umarmung ausstrahlte. Und die Musik! Welche geheimnisvollen Höhen und Tiefen war sie in der Lage zu vereinen!
"wolle si auch tango lerne?" fragte der ältere Herr hinter dem Tresen.
Tango, das klang wie eine Verheißung.
Und ihr Lächeln, das ihm gerade entgegen flatterte eben so.…