Dienstag, 25. Dezember 2007

Der erste Schluck

Er saß an dem kleinen runden Tisch gleich neben dem Eingang, vor ihm ein Glas Rotwein, an seinen Füßen die noch recht neuen Schuhe, sein Herz voller Durst.
Nun war er schon zum fünften Mal im "El Paso" und jedes Mal war sie da. Jedes Mal hat sie fast ununterbrochen getanzt und wenn sie nicht getanzt hat, war sie von mehreren Tänzern umgeben, die sich lebhaft mit ihr unterhielten. Man konnte ihr schallendes Lachen durch die Tango Klänge hindurch hören. Ab und zu, wenn ihr Blick durch den Raum wanderte und den Seinen traf, hielt sie kurz inne und sein Herz blieb fast stehen. Er konnte diesem Blick nicht stand halten, er zweifelte sogar manchmal daran, ob sie wirklich ihn anschaute. Aber das waren nur kurze Momente. Zum Glück, dachte er, denn so sehr er es sich auch wünschte, dass er auch zu denjenigen gehörte, die sie als ihre Favoriten immer gerne um sich hatte, so sehr hatte er auch Angst vor einer Begegnung mit ihr, denn dann könnte sie merken, dass er noch nicht so gut war, dass er noch nicht so viele Schritte beherrschte. Die Art, wie sie sich jedem in der Umarmung hingab, erweckte den Anschein, sie würde demjenigen ganz gehören. Aber im Grunde gehörte sie keinem von ihnen. Sie gehörte allein dem Tango. Der Tango, er war verkörpert mal in dem einen, mal in dem anderen Tänzer. Sie hatte sehr viel Anmut in ihrer Bewegung und er wünschte sich nichts sehnlicher, als diese Anmut mal zu spüren, zu erleben, wie es sich an fühlt, wenn sie sich an ihn lehnt. Aber die Ungewissheit, ob sie überhaupt mit ihm würde tanzen wollen, vielmehr aber noch sein Wunsch, sie auf keinen Fall enttäuschen zu wollen, hielt ihn noch davon ab, sie endlich mal aufzufordern.
Nun saß er da, hielt sich an seinem Glas Wein fest und konnte sich an ihrem Anblick wieder nicht satt sehen.
Da traf ihn erneut ihr Blick und er konnte sich dem Sog, der davon ausging kaum entziehen. Er stand plötzlich auf und fing an, in ihre Richtung zu gehen. Vergeblich versuchte er auf die ihn warnenden Stimmen, die in seinem Kopf herum schwirrten zu hören. Er stand bereits vor ihr, wie von einem Magneten angezogen und konnte nicht begreifen, was ihn jetzt dazu getrieben hatte. Er hörte sich die Frage stellen, ob sie Lust hätte mit ihm zu tanzen. Mit ihm! Was war bloß in ihn gefahren! War er jetzt völlig durchgedreht? Aber sie lächelte ihn an, begleitet von einem unscheinbaren Nicken, stand auf und ging auf ihn zu. Sein Herz fing an heftig zu rasen. In seinen Ohren rauschte es ganz laut und in seinem Hals steckte ein dicker Kloß fest. Sie umkreisten sich etwas, um in die richtige Tanzrichtung zu kommen und fanden sich dann in der Berührung durch die Umarmung wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Welt still zu stehen, das Rauschen hörte auf und er war nur noch von der Musik erfüllt. Sie lehnte sich sanft an ihn und er spürte ihr Eintauchen in seine Bewegung, als er den ersten Schritt setzte. So, als wollte sie mit ihrem Körper sagen: ja, hier bin ich jetzt, was hast Du nun mit mir vor?
Seine ganze Sorge, die er immer gehabt und die ihn bis jetzt von diesem Genuss abgehalten hatte, war wie weggeblasen. Er spürte ihre Wärme, ihre Geschmeidigkeit, ihre Hingabe. Blitzschnell reagierte sie auf jede seiner Bewegungen, um im nächsten Moment wieder das weiter gehen nach einem Stopp genussvoll hinaus zu zögern. Er konnte sich der Musik und ihrem Rhythmus hingeben und ganz in sie hinein versinken. Er spürte dabei das Keimen einer unbändigen Lust, über sich hinaus zu wachsen und ganz verrückte Dinge zu tun. Selten noch war es ihm bis jetzt gelungen, sich mit einer so großen Selbstverständlichkeit und einem solchen Genuss zur Musik zu bewegen.
Es war atemberaubend, betörend, es war einfach überwältigend.
Nach dem ersten Tango wusste er, an ihr wird er sich sobald nicht satt trinken, auch wenn die Schuhe dann irgendwann schon ab getanzt sein werden, jeder einzelne Schluck wird ein Sinnesrausch bleiben.